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WAS STECKT WIRKLICH HINTER "VERRÃœCKTSEIN"

Verena Mertens

Geschätzte Lesezeit: ca. 12 Minuten

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Fakten

  • An einer psychischen Störung zu leiden gilt in unserer Gesellschaft nach wie vor als Stigma. Laut epidemiologischen Studien hat sich die Einstellung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen, was bestimmte Störungen wie Schizophrenie angelangt, verschlechtert (1).

  • In Deutschland leiden jedes Jahr 27,8% Erwachsene an einer psychiatrischen Erkrankung, das sind 17,8 Millionen (2). Die Hauptbarierre, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, stellt die erlebte öffentliche Stigmatisierung dar (3). Doch, warum ist die Stigmatisierung und darüberhinausgehende Diskriminierung psychisch Kranker nach wie vor ein gesellschaftliches Problem? Was löst dies in den Betroffenen aus? Was wünschen sie sich von ihrem Umfeld, von der Gesellschaft? Diesen Fragen möchte dieser Beitrag nachgehen. 

Psychische Störungen: Text

Verrückt=gefährlich?

Negative Einstellungen gegenüber psychischen Erkrankungen überwiegen gegenüber positiven (5). Depressiven oder Angstpatienten wird unterstellt, sie seien faul und verweigern willentlich bestimmte Aktivitäten oder ein Beschäftigungsverhältnis. Menschen, die an affektiven Psychosen oder Schizophrenie leiden, gelten als seltsam und unberechenbar. Dies sind Stereotype; kognitive Vorstellungen. Zum Vorurteil gehört noch die emotionale Komponente: „Menschen mit affektiven Psychosen sind seltsam und unberechenbar und daher gefährlich. Von ihnen sollte man lieber Abstand nehmen.“ Letzteres bezeichnet diskriminierendes Verhalten: die betroffene Person wird ausgegrenzt und anders behandelt als ein psychisch gesunder Mensch. Häufig werden stereotypeninkonsistente Informationen als Einzelfall betrachtet, Variationen in der Gruppe bleiben unberücksichtigt. Individuen der Gruppe der Personen mit affektiven Psychosen werden als homogen angesehen und daher werden allen Menschen dieser Gruppe die negativen Eigenschaften zugeschrieben. Dabei spricht man von dem sogenannten Fremdgruppenhomogenitätseffekt.

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Öffentliches Stigma

Weitreichende Untersuchungen stützen das Vorhandensein eines öffentlichen Stigmas gegenüber psychisch Erkrankten – der Wahrnehmung, die von der Bevölkerung geteilt wird, dass psychisch Erkrankte sozial unerwünscht sind (6). Ausgrenzung am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis, Rückzug, Isolation und Mobbing sind verheerende Folgen. 
Mediale Berichterstattung scheint ein maßgeblicher Faktor hierfür zu sein: überwiegend werden nur Negativbeispiele gezeigt, die suggerieren, dass psychisch Kranke kriminell, gefährlich, schädigend für andere seien (7).

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Selbststigma

Selbststigmatisierung bezeichnet die Verinnerlichung des öffentlichen Stigmas; Selbstvorurteile werden gebildet (8). So hält sich ein an Schizophrenie Erkrankter selbst für gefährlich und sozial unerwünscht, von dem man Abstand nehmen muss. Diese Mneschen verlieren enorm an Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit (9). Folgen für die Betroffenen können depressive Symptome sowie gesteigerter Scham sein (10). Selbstdiskriminierung basiert auf diesen Selbstvorurteilen. Zum Beispiel kann eine betroffene Person denken: „Ich bin es nicht wert, dass mich jemand mag, weil ich andere schädige. Deswegen versuche ich erst gar nicht Kontakte zu finden.“

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Was erzählt eine Betroffene?

Nun möchte ich von einer Betroffenen selbst erfahren ob und wie sie Stigmatisierung oder Diskriminierung aufgrund ihrer Erkrankung erlebt. Karin F. ist 63 Jahre alt und lebt seit 15 Jahren in einer Wohneinrichtung für psychisch erkrankte Erwachsene. Sie leidet seit ihrem jungen Erwachsenenalter an einer bipolaren affektiven Störung – vormals bekannt unter „manisch-depressiv“. Sie erlebt abwechselt lange und intensive Phasen voller emotionalem Leid, Rückzug, Konzentrationsschwierigkeiten, gedrückter Stimmung sowie schlaflosen Nächten (Depression) und Episoden voller Elan und Energie, Rededrang, unkontrolliertem Kaufen von unnützen Dingen und Kleidung bis hin zur Verschuldung sowie der Neigung, Streit anzufangen (Manie). Im Laufe der letzten Jahre wurden ihre Episoden stetig schwächer und nahmen an Frequenz ab. Dieser Verlauf ist ein typischer mit zunehmenden Alter (11).

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Doch muss eine solche Geschichte stattfinden?

Vermutlich muss sie stattfinden, veröffentlicht werden, um die Gesellschaft für psychische Störungen zu sensibilisieren, sich zu informieren , vom Gegenteil ihrer Annahmen zu überzeugen… Als erster Schritt spielt das Einholen von Informationen eine wichtige Rolle, die diverse psychische Krankheiten darstellen und Vorurteile entkräften. Dies ist die erste Chance, den Fremdgruppenhomogenitätseffekt zu durchbrechen. Zum Beispiel bietet https://www.psychenet.de/de/psychische-gesundheit/kampagne.html oder https://einzigheartig.de/aufklaerung-ueber-psychische-erkrankungen/ nicht nur Wissenswertes, sondern konkrete Handlungsanleitungen für die Selbstaufklärung sowie die gesellschaftliche Aufklärung. Dies sind die nächsten Schritte. 

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An Karins Beispiel sieht man die beschriebenen Phänomene, die die Vorurteile gegenüber einer psychischen Erkrankung hervorrufen: Diskriminierung in Form von Mobbing und Ausgrenzung am Arbeitsplatz sowie eine Verstärkung der Depression und ein Verlust des Selbstwertgefühls. Ein Prozess von der öffentlichen Stigmatisierung zur Selbstdiskriminierung.
Ist Karin wirklich gefährlich, weil sie psychisch krank ist? Sie beschreibt, in manischen Phasen viel Geld auszugeben, von gehobener Stimmung zu sein und dazu neigt, Streit anzufangen. Typische Symptome einer Manie. Klar, sie schädigt ihre finanziellen Verhältnisse, ihre Kollegen ärgern sich. Doch, ist sie wirklich eine Gefahr für Leib und Leben? Verhaltensweisen, die in manischen Episoden ausgeführt werden, erlauben keine Kontrolle des Betroffenen hierüber. Es sind Verhaltensweisen, die die Person von ihrer Persönlichkeit her so niemals an den Tag legen würde. Nach einer solchen Episode leiden die Betroffenen sehr unter Scham- und Schuldgefühlen darüber, was sie getan haben. Es bestehen also gewisse negative Konsequenzen für die Betroffene als auch für ihr Umfeld, von einer Gefahr ist hier aber nicht zu sprechen.

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Eine Frage stellt sich mir zum Schluss: Wie wäre Karins Geschichte verlaufen, wenn sich ihre Arbeitskollegen mit ihrer Krankheit vertraut gemacht und auseinandergesetzt hätten? Was wäre passiert, wenn unsere Gesellschaft fortschrittlicher mit dem Thema umgehen würde?

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Referenzen

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(1)  Aydin, N., Fritsch, K. Stigma und Stigmatisierung von psychischen Krankheiten.Psychotherapeut 60, 245–257 (2015). https://doi.org/10.1007/s00278-015-0024-9

(2)  Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G (2013) Attitudes towards psychiatric treatment and people with mental illness: changes over decades. Br J Psychiatry 203: 146-151

(4)  Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al (2016) Erratum zu: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1 MH). Nervenarzt 87:88–90. https://doi.org/10.1007/s00115-015 4458-7 

(4)  Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G (2013) Attitudes towards psychiatric treatment and people with mental illness: changes over decades. Br J Psychiatry 203: 146-151

(5)  Corrigan P (2004) How stigma inter- feres with mental health care. Am Psychol 59:614–625. doi:10.1037/ 0003-066X.59.7.614 

(6) Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G (2013) Attitudes towards psychiatric treatment and people with mental illness: changes over decades. Br J Psychiatry 203: 146-151

(7)  Vogel DL, Wade N, Haake S (2006) Measuring the self-stigma associa- ted with seeking psychological help. J Couns Psychol 53:325–337 

(8) Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al (2016) Erratum zu: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1 MH). Nervenarzt 87:88–90. https://doi.org/10.1007/s00115-015 4458-7 

(9)   Vogel DL, Wade N, Haake S (2006) Measuring the self-stigma associa- ted with seeking psychological help. J Couns Psychol 53:325–337 

(10)  Manos RC, Rusch LC, Kanter JW, Clifford L (2009) Depression self-stigma as a mediator of the relationship bet- ween depression severity and avoi- dance. J Soc Clin Psychol 28:1128– 1143 

(11)  Wormer E (2002) BIPOLAR. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. Ein Manual für Betroffene und Angehörige. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur. München

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